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Schenken als
"fait social total"
Langfassung einer
Replik auf den Beitrag von Gerhard
Schmied: "Schenken
Probleme der Definition, Festlegung und Grenzphänomene"
(Schmieds
Hauptartikel und meine gekürzte Replik sind nachzulesen in der
Zeitschrift "Ethik und Sozialwissenschaften" im 9.
Jahrgang, 1998, Heft 3, S. 363-373 und S. 405-408)
Überblick:
Institutionalisiertes Schenken
Zur historischen Perspektive
Die rechtliche Normierung des Schenkens
in unserer Gesellschaft
Die psychologische Perspektive
Schlussbemerkung
Anmerkungen
Literatur
Institutionalisiertes
Schenken
((1)) Schenken ist zum einen soziales Handeln
par excellence. Der Wechselwirkung beim Schenken kann sich ein
Beteiligter kaum entziehen: Denn Ego und Alter wissen i. d. R.
über eine längere Zeit, daß er geschenkt hat resp. beschenkt
wurde. Menschliches Handeln schafft hier Realitäten, wobei die
Handlungen in konkreten Situationen stattfinden, eine gewisse
Zeit dauern und als Ereignisse an Zeitstellen gebunden sind.
Generell hören Handlungssysteme einfach auf, enden in einem
kleinen Zeremoniell oder werden so zu Ende gebracht, daß sie
potentiell anschlußfähig sind (vgl. LUHMANN
1975). Schenken als
Transfersonderform des Gebens ist solch eine potentiell
anschlußfähige Handlung, denn der materielle Gegenstand ist
etwas, worauf sich weitere Handlungen, auch gedankliche und
sprachliche, eine längere Zeit beziehen können. Der Akt des
Gebens und der Gegenstand sind also die Bezugspunkte, die die
Interaktionspartner miteinander verbinden, solange sich zumindest
einer daran erinnert.
((2)) Schenken ist zum zweiten ein "fait
social total" (MAUSS);
d. h., daß moralische, rechtliche, religiöse, ökonomische,
politische wie familiale, mithin institutionelle Aspekte
derart miteinander verzahnt sind, daß sie auch analytisch schwer
voneinander zu trennen sind. Schenken findet nach den
Daten der empirischen Forschung ganz überwiegend anlaßbezogen
statt,[1] also fest- und nicht alltäglich, eine
Tatsache, die unbedingt einbezogen werden muß in die
grundsätzlichen Überlegungen zur Definition selbst und zur
Abgrenzung von den Grenzphänomenen. Geschenkt wird außerdem
nicht X-Beliebigen, sondern i. d. R. Personen aus dem Nahbereich.[2] Schenken ist so stark mit
institutionalisierten Geschenkanlässen verbunden, daß HEATH (vgl.
1976, S. 145ff.) diese
Vorgänge institutionalisiertes Schenken nannte. Dieser
Tatsache wird in theoretischen Arbeiten zu wenig Beachtung
geschenkt, denn bestimmte Normen, Rituale, Gaben sind mit dem
"Skript" des jeweiligen Brauchtums verbunden und fügen
sich als Interpunktion ein in die Dramaturgie des jeweiligen
Anlasses, wie es eine Kultur, (regionale) Gemeinschaft oder ein
soziales Netzwerk gestaltet, wobei durchaus und zunehmend
Gestaltungsfreiräume für die Teilnehmer bestehen. HEATH stellt dem institutionalisierten Geben,
das sich durch die Obligation des Gebens auf der einen und der
des Nehmens auf der anderen Seite charakterisieren läßt, das überraschende
Schenken gegenüber, bei dem es keinerlei Verpflichtung des
Schenkenden gibt, aber auch keine des Annehmens. Nur dieses
überraschende Schenken ist aus der Sicht von Ego völlig
freiwillig; kann aber riskant sein, weil eine Annahmeverweigerung
durch Alter eine peinliche Situation für beiden Seiten nach sich
ziehen kann.[3]
((3)) Wie SCHMIED in ((2)) anmerkt, wird "Die Gabe" von
Marcel MAUSS (1984)
immer noch als wichtigstes Werk für die soziologische Analyse
von Geschenkvorgängen benannt, obwohl es sich hauptsächlich mit
der (kollektiven)[4] Gabe und
Gegengabe als Grundlage für die Institution des Vertrags beschäftigt.
Neben der fraglosen kapitalismuskritischen Mythologisierung durch
MAUSS, der aber auch andere Autoren bei der
Bearbeitung des Themas erliegen (z. B. LAUM 1960), fasziniert bei der ersten Lektüre des
breiten ethnographischen Materials sicherlich das vermeintliche
Wiedererkennen manch "archaischer" Bräuche auch in
unserer Gesellschaft.[5] Sie kennt
ebenso Geschenkanlässe, die kalendarisch oder
lebensabschnittbezogen i. d. R. gefeiert werden und mit den Riten
des Jahreszeitenwechsels bzw. den "rites de passage" (van GENNEP
1986) in Zusammenhang
stehen. Solche Riten des Lebenszyklus, für biologische
(Aussaat/Ernte), kalendarische (Jahres-, Jahreszeiten-,
Monatswechsel) und besondere Situationen (Abschied, Ankunft,
Krankheit) müssen auf jeden Fall einbezogen werden in die
Analyse des sozialen Phänomens: Denn selbst das (seltene)
überraschende Schenken folgt meist den Formen ritueller
Übergabe, die uns aus dem institutionalisierten Schenken bekannt
sind. Somit ist Schenken (meist, aber nicht immer,
institutionalisiertes) rituelles Handeln.
Zur
historischen Perspektive
((4)) Schenken ist außerdem Mimesis der
Vornehmen, denen das Vorrecht eingeräumt wurde bzw. die es sich
anmaßten, als erste zu nehmen. Womit wir bei dem Zusammenhang
von Aneignen und Schenken wären, der in der historischen Analyse
SCHMIEDs fehlt ((4)). War es einstmals vor allem
körperliche Stärke, die es ermöglichte, das Gut der anderen
durch Erpressung, Raub und Kampf zu gewinnen,[6] so ist heute in der Oberschicht zumindest
wirtschaftliche Potenz vonnöten, um rauschende Feste feiern zu
können. Soll der Champagner weiterhin reichlich sprudeln,
dürfen die Geldquellen nicht versiegen. Doch demonstrativer
Konsum ist heutzutage eher die Ausnahme, viele Begüterte gehen
heute eher zurückhaltend mit ihren Ressourcen um. Früher wurde
Reichtum nicht nur zur Schau gestellt; er mußte verteilt
werden, damit sich der eigene Ruhm verbreitete.[7] Nicht mehr verteilen zu können, kam dem
Eingeständnis gleich, nicht mehr über die Kräfte zu verfügen,
sich das Gewünschte zu beschaffen. Mit der Verteilung von
Gütern wurde selbstverständlich Politik betrieben, nicht nur
durch das Herstellen, das Aufrechterhalten und Festigen von
Bindungen jedweder Art (darunter freundschaftliche ebenso wie
strategische Allianzen), sondern es wurde auch aus Furcht
gegeben, zur Beschwichtigung des anderen, aber auch aus wenig
vornehmen Motiven heraus wie z. B. zum Vortäuschen von Treue,
zum Anschüren von Neid, zum Säen von Zwietracht, zur Bestechung
von Richtern usw. Solange sich die Stärkeren aneignen konnten,
was der eigenen Bevölkerung oder der andere Länder abgepreßt
wurde, solange gab es auch keine Limitierung des Geschenkumfangs,
es sei denn durch mangelndes Glück bei den Beutezügen oder
fehlende Ressourcen bei der Bevölkerung.
((5)) In der historischen Analyse ((4)) fehlen
ebenso Ausführungen zu der Rolle der christlichen Kirche sowohl
als Empfänger wertvoller Geschenke und Hort unermeßlicher
Reichtümer[8] als auch
zu ihrer Rolle als Mahnerin zur Mäßigung und (zeitweisen)
Askese: In den Legenden von adeligen Heiligen, die sich
gläubig nichts mehr aneigneten, sondern ihr gesamtes
Hab und Gut weggaben, um in dem verachteten Stand der Armut zu
leben, prägte die Kirche nachhaltig das Bild von der Nachfolge
Christi. Aus dem Wunsch heraus nach dem ewigen Leben vollzogen
Begüterte tatsächlich, oft kurz vor dem eigenen Ableben, große
Schenkungen an die Kirche in der Gewißheit oder zumindest in der
Hoffnung auf "den wunderbaren Tausch" (vgl. ROST 1991). Solch umfangreiche Transfers an
Ländereien und Vermögen gefährdeten die Existenzgrundlagen
vieler Nachkommen bis in die Zeit der Reformation (vgl. GOODY 1986). Die Spur dieser religiösen Schenkungen
ist rechtshistorisch bis in unser heutiges Recht zu verfolgen (s. u.). PARRY (vgl. 1986) ist insofern zuzustimmen, daß zumindest in
der historischen Perspektive Schenken mehr mit Religion zu
tun hat denn mit Soziologie.
((6)) Weil sich weniger der Adel beim
Verausgaben ruinierte,[9] sondern
eher die einfacheren Kreise, die auch einmal "den großen
Herrn" spielen wollten, wurden Geschenkverbote bzw.
Limitierungen erlassen, die jedoch oftmals nicht fruchteten.[10] Nicht selten steigt auch heute noch der
Wert der Gaben und Gegengaben mit jedem Transaktionszyklus.
Hierzu wird theoretisch in Abgrenzung zum rechenhaftigen Handel
und Tausch eine Tendenz des Schenkens zur (verschwenderischen)
Großzügigkeit behauptet (vgl. LAUM 1960); es könnte jedoch auch ein agonales Moment
dahinterstecken, andere (z. B. Rivalen) übertrumpfen zu wollen,
wie es weiland "Prahlhans" getan hat.
((7)) Obwohl eine Kulturgeschichte des Schenkens
bis heute ein Desiderat bleibt, sind die Ursprünge des Schenkens
im Nahrungs- und Liebesgeschenk (im Rahmen des Partnerwerbe- und
Nachkommenpflegeverhaltens), im Opfer, in der (Gast-)Freundschaft
und im Gabentausch des Festes hinreichend erforscht. Insofern
bezweifele ich aus meiner Kenntnis von Quellen die mit HANNIG (vgl.
1986) belegte These, daß
"bürgerliche Schenkkultur als Ausdruck persönlicher,
familiärer und freundschaftlicher Beziehungen ... nicht vor dem
18. Jahrhundert anzutreffen" ((5)) gewesen sei.[11] Gerade das im 17. Jahrhundert in Sachsen
ergangene Verbot hinsichtlich der Weihnachts- und
Neujahrsgeschenke zeigt ja, daß es dort Usus war, aber
offensichtlich überhand nahm. Klar ist: Nur wer (übrig)
hat, kann schenken. Bemerkenswert scheint mir in dem Zusammenhang
jedoch, daß die sog. Hausväterliteratur[12] im Kontext mit den ökonomischen Belangen
des Hausstandes nicht nur Rücklagen für Notzeiten empfiehlt,
sondern auch den sog. "Ehr=Pfennig" für
Wohltätigkeit, Einladungen, Feste und Geschenke.[13] Obwohl LUTHER 1520 vorgeschlagen hat, alle
Feste abzuschaffen, kann in der Gleichgewichtung von
"täglichem Pfennig", "Noth=Pfennig" und
"Ehr=Pfennig" selbst für den Protestantismus eine
besondere Ressourcenbildung für freigebige Akte einschließlich
Festen und Geschenken angenommen werden. Wie das aufstrebende
Bürgertum insbesondere Weihnachten zu einem Familien- und
Kinderfest inszenierte, bei dem himmlische Gaben durch
geheimnisvolle Gabenbringer "beschert" werden, ist von
WEBER-KELLERMANN für unseren Kulturkreis volkskundlich erforscht
worden (vgl. WEBER-KELLERMANN 1978).
Die rechtliche Normierung des
Schenkens in unserer Gesellschaft[14]
((8)) Unser Bürgerliches Gesetzbuch
unterscheidet interessanterweise zwischen Schenkung (§ 516 BGB)
und den sog. Pflicht- und Anstandsschenkungen (§ 534 BGB), für
die unterschiedliche Normen gelten. Entgegen der Auffassung
"Geschenkt ist geschenkt" kann z. B. das verschenkte
Haus bei gröblichem Undank des Beschenkten gegenüber seinem
Wohltäter von letzterem zurückgewonnen werden. Das ist für
Pflicht- und Anstandsschenkungen ausgeschlossen. Obwohl auch beim
Haus mit der notariellen Beurkundung der Besitzwechsel erfolgt,
ist der Eigentumswechsel erst nach 10 Jahren wirklich vollzogen.
Denn sollte der Wohltäter unverschuldet in Not geraten, kann er
innerhalb dieser Frist z. B. sein Häuschen zurückfordern (§
528 BGB). Zudem kann eine Schenkung nach § 516 BGB wegen
Pietätlosigkeit lebenslang widerrufen werden (§ 530 BGB).
Die sittliche Pflicht zu einem Geschenk so
die lapidaren BGB-Kommentare zu dem § 534 erwächst aus
den Umständen des Einzelfalls, wobei die persönlichen
Beziehungen zwischen Schenker und Beschenktem sowie ihre
Vermögen und ihre Lebensstellung einzubeziehen sind. Die Anstandspflicht
gebietet es, zu den gebräuchlichen Anlässen ein Geschenk zu
geben, wobei überraschenderweise nicht die Ansichten und
Gepflogenheiten des Verwandten- und Bekanntenkreises des
Schenkers maßgebend sind, sondern die der beruflich
Gleichgestellten. Diese Kommentierungen zum BGB zeigen m. E. zum
einen, daß Schenken keine rein private, sondern auch eine
öffentliche Angelegenheit ist; zum zweiten, daß Rang, Status
und Vermögen des Gebers eine Rolle spielen; und zum dritten,
daß Nichtschenken einen Achtungsverlust verursacht, dem
beispielsweise das Sozialhilferecht Rechnung trägt, indem
bedürftige Eltern auf Antrag Beihilfen für Geschenke an ihre
Kinder erhalten. Gehen die zu institutionalisierten
Geschenkanlässen überreichten Pflicht- und Anstandsgeschenke
sofort und unwiderruflich in das Eigentum des Beschenkten über,
so gilt dies nicht für Geschenke, die sich Verlobte nach ihrer
Verlobung geschenkt haben und die bei Auflösung der Verlobung,
so es der andere fordert (nach § 1301 Satz 1 BGB),
zurückgegeben werden müssen. Hierbei spielen sicher noch
magische Elemente eine Rolle und die Bedeutung der Liebesgabe als
Unterpfand für die versprochene Ehe. Denn wurde die Ehe
geschlossen, sind bei deren Auflösung weder die Geschenke der
Ehe- noch die der Verlobungszeit zurückzugewinnen, sofern es
sich um Pflicht- oder Anstandsschenkungen zu den üblichen
Anlässen handelte. Doch damit können sich manche Enttäuschte
nicht abfinden. So entbrennt bei Scheidungsprozessen manchmal
Streit um einen geschenkten Pelzmantel oder einen Porsche, wenn
die Klägerseite der Auffassung ist, daß diese Geschenke den
Rahmen normaler Geschenke nach § 534 überstiegen haben, was vom
Vermögen und sonstigen Lebensstil des Paares abhängig gemacht
wird. Gerichte haben in solchen Fällen zu klären, ob Schenkung
nach § 516 BGB in Betracht kommt und wenn ja, ob sich der
Beschenkte gröblich undankbar gegen den Wohltäter erwiesen hat.
((9)) Nach unserem BGB ist Schenken nach § 516
eine Sonderform des Transfers materieller Güter zwischen
Individuen und/oder Gruppen, wobei die eine Partei aus ihrem
Vermögen die andere bereichert und beide Seiten sich einig sind,
daß die Zuwendung unentgeltlich erfolgt, d. h. daß dafür keine
Gegenleistung erbracht werden muß. Diese Form der Schenkung
folgt eindeutig dem Vorbild der bis in die Neuzeit stattfindenden
religiös motivierten Schenkungen an die christliche Kirche. Hier
ist Freiwilligkeit intendiert, die Gegenseite muß nicht einmal
danken, wenngleich sie auch nicht gröblich undankbar sein darf.
Anlaß und Gesinnung spielen im BGB keine Rolle, wohl aber die
Eigentumsfrage: Man darf nur aus eigenem Vermögen schenken. Die
andere Form des Schenkens nach § 534 ist modelliert nach den
Formen des profanen Gabentausches, die zu bestimmten Anlässen
des überlieferten Brauchtums praktiziert werden.
Die
psychologische Perspektive
((10)) Was treibt uns Menschen eigentlich zu
schenken? Vermißt habe ich in SCHMIEDs Analyse Aussagen
zu den psychischen Wirkungen des Schenkens. Wenngleich z. B. die
Motive höchst unterschiedlich und schwer erforschbar sind, gibt
es doch einige Aspekte, die kurz ergänzt werden sollen: Die
Fähigkeit, freiwillig zu geben ist wohl nicht angeboren, sondern
eine kulturell gewonnene und vermittelte kollektive Erfahrung,
die sich nach Auffassung von EIBL-EIBESFELDT
(vgl. 1971) über die
Nachkommenpflege der Bezugspersonen und die Liebe des Kindes zu
seiner Mutter entwickelt. Neben der menschlichen Neigung, sich in
individualisierten Verbänden zusammenzuschließen und sich von
Nichtgruppenmitgliedern mißtrauisch und aggressiv abzugrenzen,
besteht allerdings auch ein Drang, zu einzelnen Fremden ein
geselliges Band zu stiften.[15]
Hierbei spielen Nahrungsgeschenke und andere Objekte des
Austausches eine besondere Rolle, weil freiwilliges Geben,
Teilen, Schenken offenbar beziehungsstabilisierend,
aggressionshemmend und ambivalenzüberwindend wirkt. Diese
kulturell gewonnene Erfahrung vieler Sozietäten wird an die
jüngere Generation weitergegeben über Sozialisation und
Erziehung.[16] Die
Vielzahl der Vorschriften, die LAUM anführt, läßt zum einen
erahnen, wie wichtig es den Älteren ist, die kulturell positiven
Erfahrungen weiterzugeben, zum anderen, daß es uns vielleicht
doch nicht so leicht fällt zu geben.
((11)) Die psychoanalytisch orientierte
Entwicklungspsychologie stellt heraus, welch wichtiger Schritt es
für das etwa fünfjährige Kind bedeutet, Dinge, die es
eigentlich ganz allein besitzen will, freiwillig mit anderen zu
teilen oder gar zu verschenken. Wenn man selbst etwas
"zu verschenken hat, ist man ... nicht mehr das hilflose,
greinende Kind, ausschließlich von den Geschenken der anderen
abhängig und durch ... Ängste zu Wutanfällen und
Eifersüchteleien getrieben ... Geben ist ein viel größerer
Segen als nehmen, denn in der Lage sein, zu geben, heißt, nicht
selbst Not zu leiden."[17]
((12)) Andererseits erleben Kinder und
Jugendliche schon zeitig, daß andere mehr haben und man nicht
alles haben kann. Die Knappheiten fallen individuell verschieden
aus, werden unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Da das Kind
eine lange Zeit auf Unterstützung und Schutz durch Erwachsene
angewiesen ist, erfährt es nach Ansicht Alfred ADLERs im
Vergleich zu den Erwachsenen seine Hilflosigkeit und
Unzulänglichkeit. ADLERs Entdeckung besteht jedoch darin, daß
dieses Minderwertigkeitsgefühl tendenziell bei jedem Erwachsenen
fortbesteht. Aus diesem Unzulänglichkeitsgefühl speisen sich
individuelle Probleme wie Neid, Eifersucht, Rivalität und
solche, die mit dem Schenken verbunden sein können: z. B.
Probleme beim Geben oder Annehmen; das Gefühl, immer zu kurz zu
kommen oder ein besonderes Geltungsstreben beim Schenken, das
sich in besonders aufwendigen Geschenken ausdrücken kann. Für
SELYE sind soziale Handlungen vor allem auf Anerkennung durch
andere ausgerichtet. Fokus menschlicher Lebensführung sei das
Problem des Dürstens nach mitmenschlicher Anerkennung: Um
unseren ständigen Mangel an Anerkennung zu befriedigen seien
unsere Handlungen darauf angelegt, bei unseren Mitmenschen
"Guthaben an Dankbarkeit" zu kumulieren.[18] Dankbarkeit kann ebenso binden wie
Geschenke selbst. Auf der anderen Seite erlebt auch der
großzügige Wohltäter ein Hochgefühl, oft schon im vorhinein,
wenn er ein vermeintlich passendes Geschenk gefunden oder selbst
hergestellt hat, was noch gesteigert sein kann, wenn sich der
Empfänger über die Gabe und die damit ausgedrückte
persönliche Wertschätzung freut. Selten steht, wie auch die
empirische Schenkforschung bestätigt, dabei der materielle Wert
des Geschenks im Vordergrund; denn die meisten Geschenke könnten
sich Erwachsene, sofern sie nicht arm sind, selbst leisten. Oft
erhält man sogar Gaben, die einem nicht gefallen. Insofern
handelt es sich einerseits beim Schenken in
Industriegesellschaften zwar rechnerisch um "redundante
Transaktionen" (vgl. CHEAL 1988), andererseits: "Nicht auf dem Markt kaufen
kann der einzelne Akteur die soziale Wertschätzung, die ihm
durch ein Geschenk vermittelt wird" (CLAUSEN
1991, S. 182). Da dieses
Zeichen meist zu besonderen Anlässen eingesetzt wird, ist
Schenken m. E. zugleich eine bewußte Negation der Knappheit des
Alltags.
Schlussbemerkung
((13)) Bisher gibt es keine umfassende Theorie
des "fait social total" Schenken mit seinen
sozialen, ökonomischen, kulturellen, religiösen, rechtlichen,
psychologischen, philosophischen, ästhetischen u. a. Aspekten.
Diese Aspektvielfalt, die z. T. schwierige Abgrenzung zu
ähnlichen Phänomenen (z. B. zum Spenden, Almosen oder Trinkgeld
geben, zum Opfern, zur Zwangsabgabe, zum Tausch und zur
Bestechung), auf die ich aus Platzgründen nicht eingehen kann,
und die z. T. widersprüchlichen empirischen Befunde erschweren
eine allgemein akzeptierte Definition bzw. Operationalisierung
des Begriffs. Die Kraft und Reichweite der bisherigen
eindimensionalen Theorieansätze ist gering.
((14)) Ganz allgemein kann Schenken sicher als
eine Transaktionssonderform des Gebens charakterisiert werden,
die als potentiell anschlußfähige Handlung über längere Zeit
Bezugspunkte für weitere Handlungen schaffen kann. Klassisches,
aber nicht befriedigendes Modell der Theoriebildung zum Schenken
ist die Handschenkung: Ein Mensch überreicht einem
anderen einen Gegenstand als Geschenk, wenngleich die
empirische Forschung eine Vielzahl von kollektiven Gebern und
Empfängern herausgefunden hat. Subjekte und Kollektive (Geber,
Empfänger, anwesende oder von dem Vorgang wissende Dritte)
gehören in die Modellbildung ebenso miteinbezogen wie der
Geschenkanlaß sowie (dazugehörige) Sitten und Gebräuche der
jeweiligen Kulturregion, der Akt des Gütertransfers, das oder
die Geschenk(e) selbst sowie die Art der Gabe, die Reaktionen der
Subjekte und die Dimension der Zeit, in der solche
Transaktionsprozesse stattfinden. Solch eine Forschungsaufgabe
ist nur interdisziplinär lösbar, wozu diese Diskussionseinheit
beitragen möge.
Anmerkungen
[1] In Kanada in 96% aller Fälle (vgl. CHEAL 1988).
[2] Für die wertmäßige Abstufung von
Weihnachtsgeschenken hat CAPLOW (vgl 1984, S. 1313f.) in einer mittelgroßen Stadt der USA
folgende Regeln empirisch herausgefunden: Die Ehebeziehung als
für beide Partner wertvollste soll auch Ausdruck finden bei den
Geschenken. Vom Wert darunter sind die Eltern-Kind-Beziehungen
angesiedelt, die aber deutlich höher liegen als andere
verwandtschaftliche Beziehungen. Angeheiratete Verwandte wie
Schwager/Schwägerin sollten Geschwistern gleichbehandelt werden.
Eltern mit mehreren Kindern sollten diese gleichbehandeln.
Kinder, deren Eltern noch miteinander leben, sollten ihre Eltern
wertmäßig in gleicher Weise beschenken. Eltern wie
Schwiegereltern sollten ebenbürtig behandelt werden. Kinder
jedes Alters aus getrennten, geschiedenen, wiederverheirateten
Ehen dürfen dagegen Unterschiede bei den Geschenkewerten machen.
Erwachsene Geschwister sowie ihre Ehepartner, die in der näheren
Umgebung wohnen, sollten gleichbehandelt werden. Weiter entfernt
wohnende können ungleicher bedacht werden. Abgesehen von
Sexualpartnern, die wie Quasi-Ehegatten behandelt werden, dürfen
Freundinnen und Freunde Geschwistern wertmäßig gleichgestellt
werden, nicht aber Ehegatten, Eltern oder Kindern. Entferntere
Verwandte wie Tanten und Cousins dürfen wie Geschwister
behandelt werden, sollten jedoch vom Wert der Geschenke her unter
Ehegatten, Eltern und Kindern rangieren. CAPLOW
(vgl. 1982) und auch CHEAL (vgl.
1988) konnten zeigen, daß
wertvollere Geschenke über $ 5 fast ausschließlich Verwandte
erhielten.
[3] Dies gilt insbesondere bei Geschenken von
Herren an Damen, wofür es bestimmte moralische Konventionen
gibt, was geschenkt werden sollte und was nicht. Zu frühes,
anlaßfreies Schenken läßt z. T. den Verdacht aufkommen, daß
jemand ein (sexuelles) Ziel verfolgt. Die Annahme des ersten
Geschenks kann eine Verpflichtung nach sich ziehen, die man nicht
so schnell wieder los wird (Sprichwort: "Wer Gaben nimmt,
der ist nicht frei.").
[4] Ein Ergebnis der empirischen
Schenkforschung bleibt in ((2)) unerwähnt: die große Zahl
kollektiver Geber (45%) und Empfänger (21%) auch in
Industriegesellschaften vgl. CHEAL 1988.
[5] So z. B. in dem hinkenden Vergleich des
Potlatches mit unserem Weihnachtsfest, den LÉVI-STRAUSS
(vgl. 1984) anstellte
(vgl. dazu ROST 1994).
[6] Die bei den Germanen beliebten
Glücksspiele sollen hier jedoch nicht unerwähnt bleiben.
[7] vgl. DUBY 1981, S. 55, der behauptet, daß nur geraubt wurde, um
noch freigebiger schenken zu können.
[8] was sie auch oft zum Opfer von
Plündereien werden ließ, worauf sie sich schlimmste
Höllenqualen für Kirchenraub ausdachte und vor allem für
Schenkungen an sie nur rechtmäßig angestammtes Gut akzeptierte.
[9] sofern er keine Geldgeber fand wie Karl V.
die Fugger.
[10] vgl. die Quellen BANGE 1991, BLICKLE
1988, BULST 1991, SCHMIEDER 1981/82 in ROST 1994, S. 287-308.
[11] Der Mönch ALSSO berichtet um 1400 von der
Sitte des "largum sero", wonach kein Hausvater zu arm
war, Familienangehörige und Nachbarn in der Christnacht mit
Nahrungsmitteln zu beschenken in Nachahmung der Großzügigkeit
des Herrn. Oder: LUTHER verspricht seinem kleinen Sohn Hans
brieflich bei Artigkeit ein Reise-Mitbringsel vom Jahrmarkt, das
er zweifelsohne auch bekommen hat. Wer diesen Brief liest, wird
angerührt von der freundlichen, persönlichen Beziehung des
Vaters zu seinem Sohn.
[12] später so genannte Literaturgattung,
erstes bekanntes Werk 1529.
[13] vgl. die Quellen bei ROST 1994, S. 196ff.
[14] vgl. zum folgenden ROST 1994, S. 71-78 und die dort angeführten
Quellen.
[15] vgl. EIBL-EIBESFELDT
1971, v. a. Kap. 4, 7, 8
als grundsätzliche Erklärung könnte die Beobachtung
dienen, daß selbst höhere Tierarten auf Unbekanntes mit
Fremdeln und Neugier reagieren. Hierfür ist das limbische
System, eine phylogenetisch sehr alte Region des Stammhirns
verantwortlich.
[16] Nicht von ungefähr singen die Mütter der
Yualayi den Kleinkindern ein Schlummerlied, das ihnen
Gebefreudigkeit und Herzensgüte einprägen soll, warnt der
sterbende Massai seine Kinder vor Geiz, mahnt der Papua seine
Söhne während der Beschneidung, sie sollten freigebig und
gastfreundlich sein vgl. LAUM 1960, S. 38.
[17] vgl. ISAACS 1933 zit. n. LÉVI-STRAUSS
1984, S. 151.
[18] SELYE zit. n. BALLA 1978, S. 17f. Hier gibt es wieder einen
Anknüpfungspunkt an die "Soziologie" von Georg SIMMEL,
der die Wichtigkeit des Gebens und des Gefühls der Dankbarkeit
für gesellschaftliche Prozesse betont hat (vgl. SIMMEL 1983, S. 438-447).
Literatur
BALLA, B.: Soziologie der Knappheit. Zum
Verständnis individueller und gesellschaftlicher
Mangelzustände, Stuttgart 1978.
CAPLOW, Th.: Christmas gifts and kin networks, in:
American Sociological Review 47 (1982), S. 383-392.
CAPLOW, Th.: Rule enforcement without visible
means. Christmas gift giving in Middletown, in: American Journal
of Sociology 89 (1984), S. 1306-1323.
CHEAL, D.: The gift economy, London - New York
1988.
CLAUSEN, G.: Schenken und Unterstützen in
Primärbeziehungen, Frankfurt/M. u. a. 1991.
DUBY, G.: Krieger und Bauern. Die Entwicklung von
Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter, Frankfurt/M. 21981.
EIBL-EIBESFELDT,
I.: Liebe und Haß. Zur
Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, Frankfurt/M. - Wien
- Zürich 1971.
GENNEP, A. van: Übergangsriten (Les rites de
passage), Frankfurt/M. - New York 1986.
GOODY, J.: Die Entwicklung von Ehe und Familie in
Europa, Berlin 1986.
HANNIG, J.: Ars donandi. Zur Ökonomie des Schenkens
im früheren Mittlelalter, in: Geschichte in Wissenschaft und
Unterricht 3(1986), S. 149-162.
HEATH, A.: Rational choice and social exchange,
Cambridge 1976.
LAUM, B.: Schenkende Wirtschaft.
Nichtmarktmäßiger Güterverkehr und seine soziale Funktion,
Frankfurt/M. 1960.
LÉVI-STRAUSS,
C.: Die elementaren
Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 21984.
LUHMANN, N.: Einfache Sozialsysteme, in: ders.:
Soziologische Aufklärung 2, Opladen 1975, S. 21-38.
MAUSS, M.: Die Gabe, Frankfurt/M. 1984 (zuerst
1925).
PARRY, J.: The gift, the indian gift and the
indian gift, in: Man N. S. 21 (1986), S. 453-473.
ROST, F.: Vom Begehren der Kriegsbeute zum
Wunsch nach dem ewigen Leben, in: LENZEN, D. (Hrsg.): Verbotene
Wünsche. Kulturelle Muster der Erhaltung von Lebensbereitschaft,
Berlin 1991, S. 7-31.
ROST, F.: Theorien des Schenkens. Zur kultur-
und humanwissenschaftlichen Bearbeitung eines anthropologischen
Phänomens, Essen 1994.
SCHMIED, G.: Schenken Probleme der Definition,
Festlegung und Grenzphänomene, in: Ethik und
Sozialwissenschaften 9(1998), im Druck.
SIMMEL, G.: Soziologie, Berlin 61983
(zuerst 1908).
WEBER-KELLERMANN,
I.: Das Weihnachtsfest.
Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit, Luzern -
Frankfurt/M. 1978.