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© Dr. Friedrich Rost, Eberbacher Str. 2, 14197 Berlin, e-mail: rostfu@zedat.fu-berlin.de

(Schmieds Hauptartikel und meine gekürzte Replik sind nachzulesen in der Zeitschrift "Ethik und Sozialwissenschaften" im 9. Jahrgang, 1998, Heft 3, S. 363-373 und S. 405-408)


Überblick:

Institutionalisiertes Schenken
Zur historischen Perspektive
Die rechtliche Normierung des Schenkens in unserer Gesellschaft
Die psychologische Perspektive
Schlussbemerkung
Anmerkungen
Literatur

 


Institutionalisiertes Schenken

((1)) Schenken ist zum einen soziales Handeln par excellence. Der Wechselwirkung beim Schenken kann sich ein Beteiligter kaum entziehen: Denn Ego und Alter wissen i. d. R. über eine längere Zeit, daß er geschenkt hat resp. beschenkt wurde. Menschliches Handeln schafft hier Realitäten, wobei die Handlungen in konkreten Situationen stattfinden, eine gewisse Zeit dauern und als Ereignisse an Zeitstellen gebunden sind. Generell hören Handlungssysteme einfach auf, enden in einem kleinen Zeremoniell oder werden so zu Ende gebracht, daß sie potentiell anschlußfähig sind (vgl. LUHMANN 1975). Schenken als Transfersonderform des Gebens ist solch eine potentiell anschlußfähige Handlung, denn der materielle Gegenstand ist etwas, worauf sich weitere Handlungen, auch gedankliche und sprachliche, eine längere Zeit beziehen können. Der Akt des Gebens und der Gegenstand sind also die Bezugspunkte, die die Interaktionspartner miteinander verbinden, solange sich zumindest einer daran erinnert.

((2)) Schenken ist zum zweiten ein "fait social total" (MAUSS); d. h., daß moralische, rechtliche, religiöse, ökonomische, politische wie familiale, mithin institutionelle Aspekte derart miteinander verzahnt sind, daß sie auch analytisch schwer voneinander zu trennen sind. – Schenken findet nach den Daten der empirischen Forschung ganz überwiegend anlaßbezogen statt,[1] also fest- und nicht alltäglich, eine Tatsache, die unbedingt einbezogen werden muß in die grundsätzlichen Überlegungen zur Definition selbst und zur Abgrenzung von den Grenzphänomenen. Geschenkt wird außerdem nicht X-Beliebigen, sondern i. d. R. Personen aus dem Nahbereich.[2] Schenken ist so stark mit institutionalisierten Geschenkanlässen verbunden, daß HEATH (vgl. 1976, S. 145ff.) diese Vorgänge institutionalisiertes Schenken nannte. Dieser Tatsache wird in theoretischen Arbeiten zu wenig Beachtung geschenkt, denn bestimmte Normen, Rituale, Gaben sind mit dem "Skript" des jeweiligen Brauchtums verbunden und fügen sich als Interpunktion ein in die Dramaturgie des jeweiligen Anlasses, wie es eine Kultur, (regionale) Gemeinschaft oder ein soziales Netzwerk gestaltet, wobei durchaus und zunehmend Gestaltungsfreiräume für die Teilnehmer bestehen. HEATH stellt dem institutionalisierten Geben, das sich durch die Obligation des Gebens auf der einen und der des Nehmens auf der anderen Seite charakterisieren läßt, das überraschende Schenken gegenüber, bei dem es keinerlei Verpflichtung des Schenkenden gibt, aber auch keine des Annehmens. Nur dieses überraschende Schenken ist aus der Sicht von Ego völlig freiwillig; kann aber riskant sein, weil eine Annahmeverweigerung durch Alter eine peinliche Situation für beiden Seiten nach sich ziehen kann.[3]

((3)) Wie SCHMIED in ((2)) anmerkt, wird "Die Gabe" von Marcel MAUSS (1984) immer noch als wichtigstes Werk für die soziologische Analyse von Geschenkvorgängen benannt, obwohl es sich hauptsächlich mit der (kollektiven)[4] Gabe und Gegengabe als Grundlage für die Institution des Vertrags beschäftigt. Neben der fraglosen kapitalismuskritischen Mythologisierung durch MAUSS, der aber auch andere Autoren bei der Bearbeitung des Themas erliegen (z. B. LAUM 1960), fasziniert bei der ersten Lektüre des breiten ethnographischen Materials sicherlich das vermeintliche Wiedererkennen manch "archaischer" Bräuche auch in unserer Gesellschaft.[5] Sie kennt ebenso Geschenkanlässe, die kalendarisch oder lebensabschnittbezogen i. d. R. gefeiert werden und mit den Riten des Jahreszeitenwechsels bzw. den "rites de passage" (van GENNEP 1986) in Zusammenhang stehen. Solche Riten des Lebenszyklus, für biologische (Aussaat/Ernte), kalendarische (Jahres-, Jahreszeiten-, Monatswechsel) und besondere Situationen (Abschied, Ankunft, Krankheit) müssen auf jeden Fall einbezogen werden in die Analyse des sozialen Phänomens: Denn selbst das (seltene) überraschende Schenken folgt meist den Formen ritueller Übergabe, die uns aus dem institutionalisierten Schenken bekannt sind. Somit ist Schenken (meist, aber nicht immer, institutionalisiertes) rituelles Handeln.

 

Zur historischen Perspektive

((4)) Schenken ist außerdem Mimesis der Vornehmen, denen das Vorrecht eingeräumt wurde bzw. die es sich anmaßten, als erste zu nehmen. Womit wir bei dem Zusammenhang von Aneignen und Schenken wären, der in der historischen Analyse SCHMIEDs fehlt ((4)). War es einstmals vor allem körperliche Stärke, die es ermöglichte, das Gut der anderen durch Erpressung, Raub und Kampf zu gewinnen,[6] so ist heute in der Oberschicht zumindest wirtschaftliche Potenz vonnöten, um rauschende Feste feiern zu können. Soll der Champagner weiterhin reichlich sprudeln, dürfen die Geldquellen nicht versiegen. Doch demonstrativer Konsum ist heutzutage eher die Ausnahme, viele Begüterte gehen heute eher zurückhaltend mit ihren Ressourcen um. Früher wurde Reichtum nicht nur zur Schau gestellt; er mußte verteilt werden, damit sich der eigene Ruhm verbreitete.[7] Nicht mehr verteilen zu können, kam dem Eingeständnis gleich, nicht mehr über die Kräfte zu verfügen, sich das Gewünschte zu beschaffen. – Mit der Verteilung von Gütern wurde selbstverständlich Politik betrieben, nicht nur durch das Herstellen, das Aufrechterhalten und Festigen von Bindungen jedweder Art (darunter freundschaftliche ebenso wie strategische Allianzen), sondern es wurde auch aus Furcht gegeben, zur Beschwichtigung des anderen, aber auch aus wenig vornehmen Motiven heraus wie z. B. zum Vortäuschen von Treue, zum Anschüren von Neid, zum Säen von Zwietracht, zur Bestechung von Richtern usw. Solange sich die Stärkeren aneignen konnten, was der eigenen Bevölkerung oder der andere Länder abgepreßt wurde, solange gab es auch keine Limitierung des Geschenkumfangs, es sei denn durch mangelndes Glück bei den Beutezügen oder fehlende Ressourcen bei der Bevölkerung.

((5)) In der historischen Analyse ((4)) fehlen ebenso Ausführungen zu der Rolle der christlichen Kirche sowohl als Empfänger wertvoller Geschenke und Hort unermeßlicher Reichtümer[8] als auch zu ihrer Rolle als Mahnerin zur Mäßigung und (zeitweisen) Askese: In den Legenden von adeligen Heiligen, die sich – gläubig – nichts mehr aneigneten, sondern ihr gesamtes Hab und Gut weggaben, um in dem verachteten Stand der Armut zu leben, prägte die Kirche nachhaltig das Bild von der Nachfolge Christi. Aus dem Wunsch heraus nach dem ewigen Leben vollzogen Begüterte tatsächlich, oft kurz vor dem eigenen Ableben, große Schenkungen an die Kirche in der Gewißheit oder zumindest in der Hoffnung auf "den wunderbaren Tausch" (vgl. ROST 1991). Solch umfangreiche Transfers an Ländereien und Vermögen gefährdeten die Existenzgrundlagen vieler Nachkommen bis in die Zeit der Reformation (vgl. GOODY 1986). Die Spur dieser religiösen Schenkungen ist rechtshistorisch bis in unser heutiges Recht zu verfolgen (s. u.). PARRY (vgl. 1986) ist insofern zuzustimmen, daß – zumindest in der historischen Perspektive – Schenken mehr mit Religion zu tun hat denn mit Soziologie.

((6)) Weil sich weniger der Adel beim Verausgaben ruinierte,[9] sondern eher die einfacheren Kreise, die auch einmal "den großen Herrn" spielen wollten, wurden Geschenkverbote bzw. Limitierungen erlassen, die jedoch oftmals nicht fruchteten.[10] Nicht selten steigt auch heute noch der Wert der Gaben und Gegengaben mit jedem Transaktionszyklus. Hierzu wird theoretisch in Abgrenzung zum rechenhaftigen Handel und Tausch eine Tendenz des Schenkens zur (verschwenderischen) Großzügigkeit behauptet (vgl. LAUM 1960); es könnte jedoch auch ein agonales Moment dahinterstecken, andere (z. B. Rivalen) übertrumpfen zu wollen, wie es weiland "Prahlhans" getan hat.

((7)) Obwohl eine Kulturgeschichte des Schenkens bis heute ein Desiderat bleibt, sind die Ursprünge des Schenkens im Nahrungs- und Liebesgeschenk (im Rahmen des Partnerwerbe- und Nachkommenpflegeverhaltens), im Opfer, in der (Gast-)Freundschaft und im Gabentausch des Festes hinreichend erforscht. Insofern bezweifele ich aus meiner Kenntnis von Quellen die mit HANNIG (vgl. 1986) belegte These, daß "bürgerliche Schenkkultur als Ausdruck persönlicher, familiärer und freundschaftlicher Beziehungen ... nicht vor dem 18. Jahrhundert anzutreffen" ((5)) gewesen sei.[11] Gerade das im 17. Jahrhundert in Sachsen ergangene Verbot hinsichtlich der Weihnachts- und Neujahrsgeschenke zeigt ja, daß es dort Usus war, aber offensichtlich überhand nahm. – Klar ist: Nur wer (übrig) hat, kann schenken. Bemerkenswert scheint mir in dem Zusammenhang jedoch, daß die sog. Hausväterliteratur[12] im Kontext mit den ökonomischen Belangen des Hausstandes nicht nur Rücklagen für Notzeiten empfiehlt, sondern auch den sog. "Ehr=Pfennig" für Wohltätigkeit, Einladungen, Feste und Geschenke.[13] Obwohl LUTHER 1520 vorgeschlagen hat, alle Feste abzuschaffen, kann in der Gleichgewichtung von "täglichem Pfennig", "Noth=Pfennig" und "Ehr=Pfennig" selbst für den Protestantismus eine besondere Ressourcenbildung für freigebige Akte einschließlich Festen und Geschenken angenommen werden. Wie das aufstrebende Bürgertum insbesondere Weihnachten zu einem Familien- und Kinderfest inszenierte, bei dem himmlische Gaben durch geheimnisvolle Gabenbringer "beschert" werden, ist von WEBER-KELLERMANN für unseren Kulturkreis volkskundlich erforscht worden (vgl. WEBER-KELLERMANN 1978).

 

Die rechtliche Normierung des Schenkens in unserer Gesellschaft[14]

((8)) Unser Bürgerliches Gesetzbuch unterscheidet interessanterweise zwischen Schenkung (§ 516 BGB) und den sog. Pflicht- und Anstandsschenkungen (§ 534 BGB), für die unterschiedliche Normen gelten. Entgegen der Auffassung "Geschenkt ist geschenkt" kann z. B. das verschenkte Haus bei gröblichem Undank des Beschenkten gegenüber seinem Wohltäter von letzterem zurückgewonnen werden. Das ist für Pflicht- und Anstandsschenkungen ausgeschlossen. Obwohl auch beim Haus mit der notariellen Beurkundung der Besitzwechsel erfolgt, ist der Eigentumswechsel erst nach 10 Jahren wirklich vollzogen. Denn sollte der Wohltäter unverschuldet in Not geraten, kann er innerhalb dieser Frist z. B. sein Häuschen zurückfordern (§ 528 BGB). Zudem kann eine Schenkung nach § 516 BGB wegen Pietätlosigkeit lebenslang widerrufen werden (§ 530 BGB). – Die sittliche Pflicht zu einem Geschenk – so die lapidaren BGB-Kommentare zu dem § 534 – erwächst aus den Umständen des Einzelfalls, wobei die persönlichen Beziehungen zwischen Schenker und Beschenktem sowie ihre Vermögen und ihre Lebensstellung einzubeziehen sind. Die Anstandspflicht gebietet es, zu den gebräuchlichen Anlässen ein Geschenk zu geben, wobei überraschenderweise nicht die Ansichten und Gepflogenheiten des Verwandten- und Bekanntenkreises des Schenkers maßgebend sind, sondern die der beruflich Gleichgestellten. Diese Kommentierungen zum BGB zeigen m. E. zum einen, daß Schenken keine rein private, sondern auch eine öffentliche Angelegenheit ist; zum zweiten, daß Rang, Status und Vermögen des Gebers eine Rolle spielen; und zum dritten, daß Nichtschenken einen Achtungsverlust verursacht, dem beispielsweise das Sozialhilferecht Rechnung trägt, indem bedürftige Eltern auf Antrag Beihilfen für Geschenke an ihre Kinder erhalten. Gehen die zu institutionalisierten Geschenkanlässen überreichten Pflicht- und Anstandsgeschenke sofort und unwiderruflich in das Eigentum des Beschenkten über, so gilt dies nicht für Geschenke, die sich Verlobte nach ihrer Verlobung geschenkt haben und die bei Auflösung der Verlobung, so es der andere fordert (nach § 1301 Satz 1 BGB), zurückgegeben werden müssen. – Hierbei spielen sicher noch magische Elemente eine Rolle und die Bedeutung der Liebesgabe als Unterpfand für die versprochene Ehe. Denn wurde die Ehe geschlossen, sind bei deren Auflösung weder die Geschenke der Ehe- noch die der Verlobungszeit zurückzugewinnen, sofern es sich um Pflicht- oder Anstandsschenkungen zu den üblichen Anlässen handelte. Doch damit können sich manche Enttäuschte nicht abfinden. So entbrennt bei Scheidungsprozessen manchmal Streit um einen geschenkten Pelzmantel oder einen Porsche, wenn die Klägerseite der Auffassung ist, daß diese Geschenke den Rahmen normaler Geschenke nach § 534 überstiegen haben, was vom Vermögen und sonstigen Lebensstil des Paares abhängig gemacht wird. Gerichte haben in solchen Fällen zu klären, ob Schenkung nach § 516 BGB in Betracht kommt und wenn ja, ob sich der Beschenkte gröblich undankbar gegen den Wohltäter erwiesen hat.

((9)) Nach unserem BGB ist Schenken nach § 516 eine Sonderform des Transfers materieller Güter zwischen Individuen und/oder Gruppen, wobei die eine Partei aus ihrem Vermögen die andere bereichert und beide Seiten sich einig sind, daß die Zuwendung unentgeltlich erfolgt, d. h. daß dafür keine Gegenleistung erbracht werden muß. Diese Form der Schenkung folgt eindeutig dem Vorbild der bis in die Neuzeit stattfindenden religiös motivierten Schenkungen an die christliche Kirche. Hier ist Freiwilligkeit intendiert, die Gegenseite muß nicht einmal danken, wenngleich sie auch nicht gröblich undankbar sein darf. Anlaß und Gesinnung spielen im BGB keine Rolle, wohl aber die Eigentumsfrage: Man darf nur aus eigenem Vermögen schenken. Die andere Form des Schenkens nach § 534 ist modelliert nach den Formen des profanen Gabentausches, die zu bestimmten Anlässen des überlieferten Brauchtums praktiziert werden.

 

Die psychologische Perspektive

((10)) Was treibt uns Menschen eigentlich zu schenken? – Vermißt habe ich in SCHMIEDs Analyse Aussagen zu den psychischen Wirkungen des Schenkens. Wenngleich z. B. die Motive höchst unterschiedlich und schwer erforschbar sind, gibt es doch einige Aspekte, die kurz ergänzt werden sollen: Die Fähigkeit, freiwillig zu geben ist wohl nicht angeboren, sondern eine kulturell gewonnene und vermittelte kollektive Erfahrung, die sich nach Auffassung von EIBL-EIBESFELDT (vgl. 1971) über die Nachkommenpflege der Bezugspersonen und die Liebe des Kindes zu seiner Mutter entwickelt. Neben der menschlichen Neigung, sich in individualisierten Verbänden zusammenzuschließen und sich von Nichtgruppenmitgliedern mißtrauisch und aggressiv abzugrenzen, besteht allerdings auch ein Drang, zu einzelnen Fremden ein geselliges Band zu stiften.[15] Hierbei spielen Nahrungsgeschenke und andere Objekte des Austausches eine besondere Rolle, weil freiwilliges Geben, Teilen, Schenken offenbar beziehungsstabilisierend, aggressionshemmend und ambivalenzüberwindend wirkt. Diese kulturell gewonnene Erfahrung vieler Sozietäten wird an die jüngere Generation weitergegeben über Sozialisation und Erziehung.[16] Die Vielzahl der Vorschriften, die LAUM anführt, läßt zum einen erahnen, wie wichtig es den Älteren ist, die kulturell positiven Erfahrungen weiterzugeben, zum anderen, daß es uns vielleicht doch nicht so leicht fällt zu geben.

((11)) Die psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologie stellt heraus, welch wichtiger Schritt es für das etwa fünfjährige Kind bedeutet, Dinge, die es eigentlich ganz allein besitzen will, freiwillig mit anderen zu teilen oder gar zu verschenken. Wenn man selbst etwas "zu verschenken hat, ist man ... nicht mehr das hilflose, greinende Kind, ausschließlich von den Geschenken der anderen abhängig und durch ... Ängste zu Wutanfällen und Eifersüchteleien getrieben ... Geben ist ein viel größerer Segen als nehmen, denn in der Lage sein, zu geben, heißt, nicht selbst Not zu leiden."[17]

((12)) Andererseits erleben Kinder und Jugendliche schon zeitig, daß andere mehr haben und man nicht alles haben kann. Die Knappheiten fallen individuell verschieden aus, werden unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Da das Kind eine lange Zeit auf Unterstützung und Schutz durch Erwachsene angewiesen ist, erfährt es nach Ansicht Alfred ADLERs im Vergleich zu den Erwachsenen seine Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit. ADLERs Entdeckung besteht jedoch darin, daß dieses Minderwertigkeitsgefühl tendenziell bei jedem Erwachsenen fortbesteht. Aus diesem Unzulänglichkeitsgefühl speisen sich individuelle Probleme wie Neid, Eifersucht, Rivalität und solche, die mit dem Schenken verbunden sein können: z. B. Probleme beim Geben oder Annehmen; das Gefühl, immer zu kurz zu kommen oder ein besonderes Geltungsstreben beim Schenken, das sich in besonders aufwendigen Geschenken ausdrücken kann. Für SELYE sind soziale Handlungen vor allem auf Anerkennung durch andere ausgerichtet. Fokus menschlicher Lebensführung sei das Problem des Dürstens nach mitmenschlicher Anerkennung: Um unseren ständigen Mangel an Anerkennung zu befriedigen seien unsere Handlungen darauf angelegt, bei unseren Mitmenschen "Guthaben an Dankbarkeit" zu kumulieren.[18] Dankbarkeit kann ebenso binden wie Geschenke selbst. Auf der anderen Seite erlebt auch der großzügige Wohltäter ein Hochgefühl, oft schon im vorhinein, wenn er ein vermeintlich passendes Geschenk gefunden oder selbst hergestellt hat, was noch gesteigert sein kann, wenn sich der Empfänger über die Gabe und die damit ausgedrückte persönliche Wertschätzung freut. Selten steht, wie auch die empirische Schenkforschung bestätigt, dabei der materielle Wert des Geschenks im Vordergrund; denn die meisten Geschenke könnten sich Erwachsene, sofern sie nicht arm sind, selbst leisten. Oft erhält man sogar Gaben, die einem nicht gefallen. Insofern handelt es sich einerseits beim Schenken in Industriegesellschaften zwar rechnerisch um "redundante Transaktionen" (vgl. CHEAL 1988), andererseits: "Nicht auf dem Markt kaufen kann der einzelne Akteur die soziale Wertschätzung, die ihm durch ein Geschenk vermittelt wird" (CLAUSEN 1991, S. 182). Da dieses Zeichen meist zu besonderen Anlässen eingesetzt wird, ist Schenken m. E. zugleich eine bewußte Negation der Knappheit des Alltags.

 

Schlussbemerkung

((13)) Bisher gibt es keine umfassende Theorie des "fait social total" ‘Schenken’ mit seinen sozialen, ökonomischen, kulturellen, religiösen, rechtlichen, psychologischen, philosophischen, ästhetischen u. a. Aspekten. Diese Aspektvielfalt, die z. T. schwierige Abgrenzung zu ähnlichen Phänomenen (z. B. zum Spenden, Almosen oder Trinkgeld geben, zum Opfern, zur Zwangsabgabe, zum Tausch und zur Bestechung), auf die ich aus Platzgründen nicht eingehen kann, und die z. T. widersprüchlichen empirischen Befunde erschweren eine allgemein akzeptierte Definition bzw. Operationalisierung des Begriffs. Die Kraft und Reichweite der bisherigen eindimensionalen Theorieansätze ist gering.

((14)) Ganz allgemein kann Schenken sicher als eine Transaktionssonderform des Gebens charakterisiert werden, die als potentiell anschlußfähige Handlung über längere Zeit Bezugspunkte für weitere Handlungen schaffen kann. Klassisches, aber nicht befriedigendes Modell der Theoriebildung zum Schenken ist die Handschenkung: Ein Mensch überreicht einem anderen einen Gegenstand als Geschenk, wenngleich die empirische Forschung eine Vielzahl von kollektiven Gebern und Empfängern herausgefunden hat. Subjekte und Kollektive (Geber, Empfänger, anwesende oder von dem Vorgang wissende Dritte) gehören in die Modellbildung ebenso miteinbezogen wie der Geschenkanlaß sowie (dazugehörige) Sitten und Gebräuche der jeweiligen Kulturregion, der Akt des Gütertransfers, das oder die Geschenk(e) selbst sowie die Art der Gabe, die Reaktionen der Subjekte und die Dimension der Zeit, in der solche Transaktionsprozesse stattfinden. Solch eine Forschungsaufgabe ist nur interdisziplinär lösbar, wozu diese Diskussionseinheit beitragen möge.

 

Anmerkungen

[1] In Kanada in 96% aller Fälle (vgl. CHEAL 1988).

[2] Für die wertmäßige Abstufung von Weihnachtsgeschenken hat CAPLOW (vgl 1984, S. 1313f.) in einer mittelgroßen Stadt der USA folgende Regeln empirisch herausgefunden: Die Ehebeziehung als für beide Partner wertvollste soll auch Ausdruck finden bei den Geschenken. Vom Wert darunter sind die Eltern-Kind-Beziehungen angesiedelt, die aber deutlich höher liegen als andere verwandtschaftliche Beziehungen. Angeheiratete Verwandte wie Schwager/Schwägerin sollten Geschwistern gleichbehandelt werden. Eltern mit mehreren Kindern sollten diese gleichbehandeln. Kinder, deren Eltern noch miteinander leben, sollten ihre Eltern wertmäßig in gleicher Weise beschenken. Eltern wie Schwiegereltern sollten ebenbürtig behandelt werden. Kinder jedes Alters aus getrennten, geschiedenen, wiederverheirateten Ehen dürfen dagegen Unterschiede bei den Geschenkewerten machen. Erwachsene Geschwister sowie ihre Ehepartner, die in der näheren Umgebung wohnen, sollten gleichbehandelt werden. Weiter entfernt wohnende können ungleicher bedacht werden. Abgesehen von Sexualpartnern, die wie Quasi-Ehegatten behandelt werden, dürfen Freundinnen und Freunde Geschwistern wertmäßig gleichgestellt werden, nicht aber Ehegatten, Eltern oder Kindern. Entferntere Verwandte wie Tanten und Cousins dürfen wie Geschwister behandelt werden, sollten jedoch vom Wert der Geschenke her unter Ehegatten, Eltern und Kindern rangieren. – CAPLOW (vgl. 1982) und auch CHEAL (vgl. 1988) konnten zeigen, daß wertvollere Geschenke über $ 5 fast ausschließlich Verwandte erhielten.

[3] Dies gilt insbesondere bei Geschenken von Herren an Damen, wofür es bestimmte moralische Konventionen gibt, was geschenkt werden sollte und was nicht. Zu frühes, anlaßfreies Schenken läßt z. T. den Verdacht aufkommen, daß jemand ein (sexuelles) Ziel verfolgt. Die Annahme des ersten Geschenks kann eine Verpflichtung nach sich ziehen, die man nicht so schnell wieder los wird (Sprichwort: "Wer Gaben nimmt, der ist nicht frei.").

[4] Ein Ergebnis der empirischen Schenkforschung bleibt in ((2)) unerwähnt: die große Zahl kollektiver Geber (45%) und Empfänger (21%) auch in Industriegesellschaften – vgl. CHEAL 1988.

[5] So z. B. in dem hinkenden Vergleich des Potlatches mit unserem Weihnachtsfest, den LÉVI-STRAUSS (vgl. 1984) anstellte (vgl. dazu ROST 1994).

[6] Die bei den Germanen beliebten Glücksspiele sollen hier jedoch nicht unerwähnt bleiben.

[7] vgl. DUBY 1981, S. 55, der behauptet, daß nur geraubt wurde, um noch freigebiger schenken zu können.

[8] was sie auch oft zum Opfer von Plündereien werden ließ, worauf sie sich schlimmste Höllenqualen für Kirchenraub ausdachte und vor allem für Schenkungen an sie nur rechtmäßig angestammtes Gut akzeptierte.

[9] sofern er keine Geldgeber fand wie Karl V. die Fugger.

[10] vgl. die Quellen BANGE 1991, BLICKLE 1988, BULST 1991, SCHMIEDER 1981/82 in ROST 1994, S. 287-308.

[11] Der Mönch ALSSO berichtet um 1400 von der Sitte des "largum sero", wonach kein Hausvater zu arm war, Familienangehörige und Nachbarn in der Christnacht mit Nahrungsmitteln zu beschenken in Nachahmung der Großzügigkeit des Herrn. Oder: LUTHER verspricht seinem kleinen Sohn Hans brieflich bei Artigkeit ein Reise-Mitbringsel vom Jahrmarkt, das er zweifelsohne auch bekommen hat. Wer diesen Brief liest, wird angerührt von der freundlichen, persönlichen Beziehung des Vaters zu seinem Sohn.

[12] später so genannte Literaturgattung, erstes bekanntes Werk 1529.

[13] vgl. die Quellen bei ROST 1994, S. 196ff.

[14] vgl. zum folgenden ROST 1994, S. 71-78 und die dort angeführten Quellen.

[15] vgl. EIBL-EIBESFELDT 1971, v. a. Kap. 4, 7, 8 – als grundsätzliche Erklärung könnte die Beobachtung dienen, daß selbst höhere Tierarten auf Unbekanntes mit Fremdeln und Neugier reagieren. Hierfür ist das limbische System, eine phylogenetisch sehr alte Region des Stammhirns verantwortlich.

[16] Nicht von ungefähr singen die Mütter der Yualayi den Kleinkindern ein Schlummerlied, das ihnen Gebefreudigkeit und Herzensgüte einprägen soll, warnt der sterbende Massai seine Kinder vor Geiz, mahnt der Papua seine Söhne während der Beschneidung, sie sollten freigebig und gastfreundlich sein – vgl. LAUM 1960, S. 38.

[17] vgl. ISAACS 1933 zit. n. LÉVI-STRAUSS 1984, S. 151.

[18] SELYE zit. n. BALLA 1978, S. 17f. – Hier gibt es wieder einen Anknüpfungspunkt an die "Soziologie" von Georg SIMMEL, der die Wichtigkeit des Gebens und des Gefühls der Dankbarkeit für gesellschaftliche Prozesse betont hat (vgl. SIMMEL 1983, S. 438-447).

 

Literatur

BALLA, B.: Soziologie der Knappheit. Zum Verständnis individueller und gesellschaftlicher Mangelzustände, Stuttgart 1978.

CAPLOW, Th.: Christmas gifts and kin networks, in: American Sociological Review 47 (1982), S. 383-392.

CAPLOW, Th.: Rule enforcement without visible means. Christmas gift giving in Middletown, in: American Journal of Sociology 89 (1984), S. 1306-1323.

CHEAL, D.: The gift economy, London - New York 1988.

CLAUSEN, G.: Schenken und Unterstützen in Primärbeziehungen, Frankfurt/M. u. a. 1991.

DUBY, G.: Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter, Frankfurt/M. 21981.

EIBL-EIBESFELDT, I.: Liebe und Haß. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, Frankfurt/M. - Wien - Zürich 1971.

GENNEP, A. van: Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt/M. - New York 1986.

GOODY, J.: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Berlin 1986.

HANNIG, J.: Ars donandi. Zur Ökonomie des Schenkens im früheren Mittlelalter, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 3(1986), S. 149-162.

HEATH, A.: Rational choice and social exchange, Cambridge 1976.

LAUM, B.: Schenkende Wirtschaft. Nichtmarktmäßiger Güterverkehr und seine soziale Funktion, Frankfurt/M. 1960.

LÉVI-STRAUSS, C.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 21984.

LUHMANN, N.: Einfache Sozialsysteme, in: ders.: Soziologische Aufklärung 2, Opladen 1975, S. 21-38.

MAUSS, M.: Die Gabe, Frankfurt/M. 1984 (zuerst 1925).

PARRY, J.: The gift, the indian gift and the ‘indian gift’, in: Man N. S. 21 (1986), S. 453-473.

ROST, F.: Vom Begehren der Kriegsbeute zum Wunsch nach dem ewigen Leben, in: LENZEN, D. (Hrsg.): Verbotene Wünsche. Kulturelle Muster der Erhaltung von Lebensbereitschaft, Berlin 1991, S. 7-31.

ROST, F.: Theorien des Schenkens. Zur kultur- und humanwissenschaftlichen Bearbeitung eines anthropologischen Phänomens, Essen 1994.

SCHMIED, G.: Schenken – Probleme der Definition, Festlegung und Grenzphänomene, in: Ethik und Sozialwissenschaften 9(1998), im Druck.

SIMMEL, G.: Soziologie, Berlin 61983 (zuerst 1908).

WEBER-KELLERMANN, I.: Das Weihnachtsfest. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit, Luzern - Frankfurt/M. 1978.

 
 

 


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